Ich habe einen wahren Schatz gefunden. Genauer gesagt habe ich ihn sogar geschenkt bekommen. Null Arbeit also mit der Suche, der Graberei usw. Es handelt sich um den „Daheim Kalender 1910“. „Daheim“ war eine Zeitschrift, wöchentlich erschienen von 1864 bis 1943. Zwischen 1872 bis 1935 erschien zusätzlichlich ein jährlicher Daheim Kalender. Ich glaube das war damals so etwas wie ein Familien-, Lebensführung-, Unterhaltungsbuch hauptsächlich für Frauen. Lieder, kurze Geschichten, Anleitungen für Handarbeiten, Naturabbildungen, Kunst und zahlreiche Anzeigen sind darin zu finden.
Allein das Vorsatzpapier verzaubert mich schon ein wenig. Ja, es gibt auch heute noch wunderschön gemachte Bücher und Kataloge, aber keines entlockt mir so schnell Entzückungslaute wie alte Bücher.
Der eigentliche Kalender umfasst lediglich 24 Seiten. Eine Übersichtsseite zu jedem Monat mit einer Auflistung der Wochentage mit Datum, Auf- bzw. Untergangszeiten von Sonne und Mond, Feiertagen etc. und eine Blankoseite für eigene Notizen. Die typische Frau von 1910 hatte scheinbar nicht sehr viele Termine.
Der wahre Schatz verbirgt sich allerdings im Anzeigenteil ganz hinten. Was und vor allem wie da geworben wird, herrlich. Grafisch ein Traum und inhaltlich teilweise so unfreiwillig komisch. Ich habe bei der Lektüre Tränen gelacht.
Wusstet ihr das Sylt den „stärksten Wellenschlag der Westküste“ hat?
In Chemnitz gab es mal die größte Schwarz-Färberei der Welt. Jährlich über 6 Millionen Dutzend Paar Strümpfe wurden dort schwarz gefärbt. „Vollständig giftfrei und durchaus haltbar“. Kaum vorzustellen, dass es vor 100 Jahren noch etwas besonderes war, Stoffe schwarz zu färben.
Sehr witzig sind aber auch die Anzeigen gegen Korpulenz und Magerkeit direkt nebeneinander. Derselbe Anbieter wirbt hier in verschiedenen Schriften für seine Mittelchen. Natürlich „streng reell – kein Schwindel“. Grolichs Haarmilch direkt darunter ist aber auch nicht schlecht. Schon nach zwei Tagen der Anwendung wird graues Haar wieder braun.
Unentbehrlich für Damen sind natürlich Hartmann’s Gesundheits-Binden mit, und jetzt bitte ganz genau mitlesen, Patent-Holzwollwatte-Füllung. Aaaah! Ich war noch nie so froh im Jetzt zu leben. Das allerbeste an dieser Anzeige ist allerdings der Zusatz „man verlange ausdrücklich Hartmann’s Original Befestigungsgürtel hierzu“. Ein Befestigungsgürtel für Binden? Davon hätte ich zu gerne ein Bild.
Das Vorher- Nachherbild der Reise- und Schlafdecke finde ich auch sehr charmant. Vorher: „Oh, diese kurzen feuchten Hotelbetten bringen mich noch zur Verzweiflung, wenn dafür Abhilfe geschaffen würde.“ Kurze feuchte Hotelbetten. Da schüttelt es mich. Nachher: „Ah, eine famose Idee, diese mollige Reise- und Schlafdecke endlich mein eigenes Bett auf der Reise.“ Allein aufgrund des Wortes famos, gefällt mir diese Anzeige schon außerordentlich. Famos ist ein ganz famoses Wort. Ich finde es sollte viel öfter gebraucht werden!
Ich könnte stundenlang in solchen Büchern blättern. Einfach traumhaft. Der Geruch, die vergilbten Seiten und in diesem Fall auch noch der fabelhafte Inhalt. Ich möchte in einem Antiquariat wohnen!